(Foto: Dagmar Seybold)
Aus dem Blog unserer Reise nach Mexiko 2022

Von Charlotte Sippel

Mir schnürt es die Kehle zu, als wir über die Grenzbrücke von Juárez nach El Paso laufen. Ehemals eine Stadt, ein Land, eine Bevölkerung. Heute sind Familien, Nachbar*innen, Freund*innen künstlich getrennt durch Mauern und Stacheldrahtzäune.

Das ist sie also: La frontera. Eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt.

Grenze, Border, Frontera – was bedeutet das eigentlich?

Ein Blick in Gloria Anzaldúas Buch Borderlands verdeutlicht, dass eine Grenze nicht einfach eine Linie ist, die wir übertreten.  Sie dient der Trennung von Gutem und Schlechtem, Sicherem und Unsicheren, Weißen und Nicht-Weißen.

Manche bleiben an ihr hängen und andere müssen in ihr leben.

“Grenzen dehnen sich in die Psyche der Menschen aus, die sie bewohnen”, schreibt Anzaldúa.

 Ich schaue hinunter auf den Río Bravo, sehe vier Menschen durch das fast ausgetrocknete Flussbett waten. Schon sind sie auf US-amerikanischer Seite. Theoretisch. Denn nun stehen sie vor der eigentlichen Grenze, der Mauer, Trumps Mauer, von Steuergeldern oder Privatpersonen bezahlt, von Mexikaner*innen gebaut.

Die vier Menschen laufen an der Mauer entlang. Einige Kilometer weiter flussaufwärts haben sich bereits einige hundert Menschen zusammengefunden. Sie hoffen, dass sie bald genug Personen sind, damit die Border Patrol sie in ein Migrant*innenlager in El Paso bringt und sie von dort ihre Anträge auf Asyl stellen können. Wobei nur den wenigsten Anträgen stattgegeben wird und die Mehrheit der Menschen abgeschoben wird.

 Ich laufe weiter, die Grenze auf die ich gerade schaue hat eine lange Geschichte entwürdigender Grenzpraktiken: 1917 mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg wurden die ersten Grenzkontrollen eingeführt. Arbeiter*innen, die täglich die Grenze überquerten, wurden mit Pestiziden und Zyklon B „desinfiziert“. Diese Praktiken wurden Jahrzehnte später verboten, aber die Diskurse über unhygienische Migrant*innen und Mexikaner*innen, die Krankheiten bringen, werden auch heute noch von US-Populist*innen angeheizt.

Ich betrete das Büro der Border Patrol, um mein Visa Waver zu beantragen. Hinter mir wird eine Gruppe von Menschen hereingeführt. Frauen, Kinder, indigene und schwarze Menschen aus verschiedenen Ländern. In diesem Raum an der Grenze warten sie nun, jede Person mit ihrer individuellen (Lebens-)Geschichte, ihren Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen. Vereint in dem Wunsch, eine bessere Zukunft jenseits der Grenze zu suchen. Sueño americano.

Aber zunächst einmal warten. Stundenlang.

 De dónde son? – de Brazil…

Y ustedes de dónde son? – Venezuela.

Auf einmal ist der Raum voll mit Polizei. Ein Baby weint, ihre ältere Schwester hält ihr erschrocken den Mund zu. Sie nimmt die Angespanntheit ihrer Mutter wahr, ist sich der Wichtigkeit der Situation bewusst. Sie klammert sich an die Hand ihrer Mutter, die mittlerweile von einem Grenzbeamten fotografiert wird. Dann wieder warten. Das „Wartenlassen“ wird zum Symbol der Macht.  Die gesamte Staatsgewalt kumuliert sich in diesem Moment in einem einzigen Grenzbeamten, der über Schicksale von Menschen, gesamten Familien entscheidet.

Ustedes, de dónde son? – Somos de Guatemala.

Ich schlucke. Dann werde ich aufgerufen. „Please give your fingerprint. Now the left hand. Thank you. Have a nice day.” Ich bin durch und kann weiter gehen. Die anderen bleiben zurück und warten weiter.

Was wohl mit ihnen passieren wird? Werden sie durchgelassen oder abgewiesen? Werden sie es wieder probieren? Beim nächsten Mal vielleicht auf illegalisiertem Weg? Und was erwartet sie in den USA?

 „Do not come to the US!”, hallen in meinem Kopf die Worte der US-Vizepräsidentin Kamala Harris bei ihrem ersten Staatsbesuch in Guatemala nach. Ihre Botschaft war klar: Wer versucht illegal in die USA einzureisen, wird zurückgeschickt.

Trotzdem nimmt die Migration aus Guatemala und aus der gesamten zentralamerikanischen Region in die USA seit Jahren zu. Jeden Tag kommen Menschen in Juárez an.  Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Grenze zu überqueren.

Allein 10.000 Migrant*innen sind in Mexiko verschwunden.

Der Weg in die USA ein einziger Friedhof.

Unangenehm berührt von meinen Privilegien, diese Grenze einfach so zu überqueren, gehe ich die letzten Meter und befinde mich auf der Hauptstraße von El Paso. Links und rechts laden bunte Reklame und Billigprodukte zum Konsum ein. Konsum, um zu vergessen. Konsum von Produkten, die vielleicht in den Maquillas jenseits der Grenze gefertigt wurden und nun zum Reichtum diesseits der Grenze beitragen.

Reichtum, Ausbeutung, Armut, (Un)Gerechtigkeit.

Was heißt das alles? Ich weiß es nicht, sicher weiß ich aber, dass in Mexiko alle Geschäfte mit den Migrant:innen machen: die Polizei, die Migrationsbehörden und die organisierte Kriminalität.  

Und Trump setzte mit der Mauer auf noch mehr Abschreckung, noch mehr schwer bewaffnete Grenzpolizisten, Hubschrauber und Drohnen. Migration verhindern tut die Mauer nicht, soll sie auch gar nicht, denn wie Europa sind auch die USA auf Menschen ohne Papiere angewiesen, die Arbeiten unterbezahlt verrichten, die sonst niemand mehr machen möchte.

Die Mauer ist vor allem ein Symbol, sie steht für: „Wir gegen sie!“ 

Und sie macht die Migration teurer und gefährlicher. 30.000 Dollar verlangen die „Coyotes“ um Migrant*innen in die USA zu schmuggeln. Garantien oder Rechte haben die Migrant*innen in Mexiko keine. Wirkliche Alternativen auch nicht. 

Bleibt nur die Hoffnung auf ein besseres Leben, irgendwann, irgendwo “allá en el norte”.

Mexiko – No. 3: (No) Borders – Fragmente
Markiert in:                     

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert